Hermann Nitsch - Farbenwelt

Wiener Neustadt, September 2023

Im September und Oktober 2023 fand im Museum St. Peter an der Sperr in Wiener Neustadt die Ausstellung 'Hermann Nitsch - Farbenwelt' statt. An die 100 Werke des im April 2022 verstorbenen Universalkünstlers Hermann Nitsch wurden gezeigt.

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

Die im Museum und der dazugehörigen Kirche präsentierten Arbeiten sind vor allem großformatige Werke aus den letzten Jahren von Hermann Nitsch aus der Sammlung Werner Trenker, ergänzt um Leihgaben der Nitsch Foundation.

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

Die Arbeiten bestechen durch völlig neue, leuchtende Farbkompositionen. Als Kurator der Schau konnte Hubert Klocker, ein ausgewiesener Aktionismus-Spezialist gewonnen werden.

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

„es macht mir grosse freude mich bei meinen arbeiten, die ich als achtzigjähriger noch herzustellen vermag, auf die blumenfarbige leuchtkraft der geschmierten farbsubstanz zu konzentrieren. mehr denn je ist mir die auferstehung ein prinzip.“ (Hermann Nitsch, 2019)

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

1938 Hermann Nitsch wird am 29. August in Wien geboren und wächst mit seiner Mutter in Großjedlersdorf im 21. Wiener Gemeindebezirk auf.
1944 Nitschs Vater fällt im Zweiten Weltkrieg. Die Großeltern mütterlicherseits wohnen in der Nähe und sein Großvater wird für Nitsch zum Vaterersatz; dieser vermittelt ihm auch das Interesse am Zeichnen.
1953-1958 Nach dem Pflichtschulabschluss besucht er die Höhere Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien und setzt sich mit Literatur und Lyrik, Musik und Philosophie auseinander. Er beginnt zu schreiben und plant ein Ur-Drama, das alle großen Themenbereiche des Seins umfassen soll.
1957 Er erhält eine Anstellung als Grafiker am Technischen Museum Wien und entwickelt die Idee des o.m. theaters (Orgien Mysterien Theaters).
1959 Die Ausstellung Junge Maler der Gegenwart im Künstlerhaus Wien mit Werken von Antoni Tàpies, Willem de Kooning, Sam Francis, Jackson Pollock, Georges Mathieu, Arnulf Rainer, Josef Mikl und Wolfgang Hollegha begeistert Nitsch restlos. Sie ist der Auslöser, sich dem eigenen malerischen Schaffen zu widmen, um sich der Vision vom Gesamtkunstwerk zuerst über die informelle Malerei und den zweidimensionalen Raum anzunähern.
1960 Eine erste Ausstellung gemeinsam mit Fritz Kindl im Loyalty Club, Wien wird von Peter Fürst, Sohn seines Hausherrn, initiiert. Im Technischen Museum nutzt Nitsch einen Raum als Atelier. Es entstehen zunächst kleinformatige pastose Arbeiten, später, in seiner ersten als solche bezeichneten Malaktion am 18. November die frühesten Kreuzwegstationen.

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

1961 Nach weiteren Malaktionen im Technischen Museum findet am 12. Juli die 4. Malaktion im Atelier Nitsch in der Mitterhofergasse, Wien statt.
1962 Parallel zum Beginn der Bewegung des Wiener Aktionismus bezieht Nitsch ein Atelier in der Brünner Straße in Wien Floridsdorf. Die Größe des Raums mit einer Länge von neun Metern ermöglicht es ihm, großformatige Bilder zu malen. Im Rahmen der Veranstaltung Blutorgel der Wiener Aktionisten in Otto Muehls Kelleratelier in der Perinetgasse, Wien findet am 4. Juni Nitschs 7. Malaktion statt. Es entsteht das Blutorgelbild, das erste Schüttbild mit Blut als Malmittel. Am 19. Dezember realisiert Nitsch in Muehls Wohnatelier in der Oberen Augartenstraße, Wien seine 1. Aktion, bei der Nitsch sich ans Kreuz binden und mit Farbe beschütten lässt.
1963 Die 2. Aktion, die erste öffentliche, findet am 8. März anlässlich der Eröffnung der Galerie Dvorak in der Lagergasse, Wien statt. Die 3. Aktion (Fest des psychophysischen Naturalismus) am 28. Juni in der Perinetgasse, Wien wird von der Polizei beendet. Die Aktion sorgt für viel Aufsehen und Nitsch und Muehl kommen für mehrere Tage in Haft.
1965 Nitsch heiratet Eva Kranich.
1966 Die Wiener Aktionisten erfahren beim The Destruction in Art Symposium (DIAS) in London das von Gustav Metzger veranstaltet wird, ihren internationalen Durchbruch. Nitsch trennt sich von Eva Kranich.
1967 Nitsch lernt Beate König kennen. Aufgrund mehrerer Gerichtsprozesse und Gefängnisstrafen verlässt Nitsch Österreich, um mit Beate bis 1978 hauptsächlich in Deutschland zu leben.

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1968 In den USA finden vier Aktionen in Cincinnati und New York statt. Dort lernt er Vertreter der Fluxus-Bewegung kennen. Er heiratet Beate König. Im Herbst zieht der Ziehsohn Leo Kopp, geboren 1957, als Pflegekind zu Beate und Hermann Nitsch.
1970 Weitere Aktionen in New York, München und Köln folgen zusammen mit einer verstärkt auch internationalen Ausstellungstätigkeit und regelmäßigen Publikationen von Büchern, Tonträgern und Filmen.
1971 Nitsch kauft Schloss Prinzendorf in Niederösterreich.
1972 Er nimmt an der von Harald Szeemann kuratierten documenta 5 in Kassel teil. Nitsch bespielt das Mercer Arts Center in New York mit deiner 12-Stunden Aktion, erstmals wird eine Aktion zum Fest erweitert. Charlotte Meorman partizipiert als Akteurin.
1973 Beim ersten Pfingstfest, das seither generell jedes Jahr auf Schloss Prinzendorf und in dessen Umgebung
stattfindet, wird das o.m. theater.

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1974 In der Folge der 45. Aktion am 10. April im Studio Morra, Neapel kommt es zur Intensivierung der Zusammenarbeit mit dem Kunstsammler Giuseppe Morra in Form weiterer Aktionen, Ausstellungen und Publikationen. Erstmals arbeitet auch Leo Kopp an den Projekten seines Ziehvaters mit und wird mit den Jahren zum besten Kenner der Umsetzung von Nitschs Aktionen.
1975 50. Aktion, das erste 24-Stunden-Spiel findet von Sonnenaufgang 26. Juli bis Sonnenaufgang 27. Juli in Schloss Prinzendorf statt.
1977 Beate Nitsch verunglückt bei einem Autounfall. Mit der 55. Aktion, Requiem für meine Frau Beate in Bologna, gewinnt die Musik in Nitschs Lebenswerk an Bedeutung.
1978 Nitsch beginnt eine mehrjährige Beziehung mit Christine König. Es kommt zur ersten Galeriezusammenarbeit mit Heike Curtze. Ihr gelingt es, viele der frühen Werke in bedeutenden Museumssammlungen zu platzieren.
1982 Nitsch nimmt an der documenta 7 in Kassel unter der künstlerischen Leitung von Rudi Fuchs teil.
1983 Eine Einzelausstellung im Van Abbemuseum, Eindhoven wird von Rudi Fuchs kuratiert. Nach einer fast 20-jährigen Malpause im ursprünglichen Sinn nutzt Nitsch die Leere des Schüttbodens in Schloss Prinzendorf für eine große Malaktion, bei der eine Reihe großformatiger, in Rot gehaltener Arbeiten entsteht.
1984 Die 80. Aktion, ein 3-Tage-Spiel mit 18. Malaktion, findet von 27. bis 30. Juli auf Schloss Prinzendorf statt.
Nitsch beginnt sein großes Grafikwerk Die Architektur des o.m. theaters. Seine Mutter stirbt.

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1987 Bei der 20. Malaktion vom 18. bis 21. Februar in der Wiener Secession bespielt Nitsch den gesamten Hauptraum. Es folgen in den kommenden Jahren weltweit Ausstellungen, Aktionen und Konzerte in Italien, Spanien, USA, Deutschland, Australien, Frankreich, Schweden, Luxemburg, Tschechien, den Niederlanden, Japan, der Schweiz, England, China, Kuba, der Slowakei, der Türkei und Mexiko.
1988 Nitsch heiratet Rita Leitenbor. Die 26. Malaktion findet im Rahmen der Sydney Biennale im Mai statt. Eine erste große Retrospektive wird in der Städtischen Galerie im Lehnbachhaus in München gezeigt.
1989 Nitsch wird als Professor für interdisziplinäre Kunst an die Städelschule in Frankfurt am Main berufen, allerdings ohne Lehrstuhl.
1991 Im Rahmen der 30. Malaktion im August entsteht der erste Schwarze Zyklus an Schüttbildern.
1992 Nitsch vertritt als einziger Künstler Österreichs das Land bei der Weltausstellung in Sevilla.
1993 Er leitet alle zwei Jahre eine Klasse für Malerei an der Internationalen Sommerakademie in Salzburg. In der Prager Nationalgalerie findet die bislang größte Nitsch-Ausstellung, vermittelt von Wolfgang Denk, statt.
1994 Auf Einladung von deren Direktor Wolfgang Denk kommt es zur Ausstellung in der Kunsthalle Krems. Im Rahmen der 35. Malaktion im Juli und August realisiert Nitsch erstmals ein Ochsenbild, dessen Struktur an die Karkasse eines Ochsen erinnert.

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1995 Die Wiener Staatsoper beauftragt Nitsch, die Ausstattung der Oper Hérodiade von Jules Massenet zu übernehmen und bei der Inszenierung Regie zu führen. In der 36. Malaktion im Juni und Juli auf Schloss Prinzendorf entstehen die pastos überarbeiteten Werke der Braunen Serie. Eine umfangreiche Personale wird im Künstlerhaus Wien gezeigt. Im Rahmen der 37. Malaktion am 8. und 9. Oktober im Kunsthaus Mürzzuschlag, Steiermark realisiert Nitsch eine Serie an Bodenschüttbildern mit Öl und Blut. Er wird vom österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Kultur zum Ehrenprofessor ernannt.
1996 Die 96. Aktion findet im Weingarten San Martino von Giuseppe Morra in Neapel statt, die drei Tage dauernde 38. Malaktion im Schömerhaus von Karlheinz Essl in Klosterneuburg bei Wien.
1997 Bei der großen schwarzen 40. Malaktion im Museum des 20. Jahrhunderts (20er Haus), Wien ist Nitsch fast zwei Wochen lang in den Räumlichkeiten den Wirkungen von Terpentin ausgesetzt. Infolge einer körperlichen Reaktion arbeitet er fortan fast ausschließlich mit Acrylfarbe.
1998 Von 3. bis 9. August findet auf Schloss Prinzendorf das 6-Tage-Spiel des o.m theaters (100. Aktion) gemeinsam mit der 41. Malaktion statt.

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2000 Im Rahmen der 43. Malaktion entstehen im Sommer die farbig pastosen Bilder des Auferstehungszyklus I.
2001 Nitsch übernimmt die Gesamtausstattung der Oper Satyagraha von Philip Glass im Festspielhaus St. Pölten.
2002 Er arbeitet am Auferstehungszyklus II, dem ersten ausschließlich gelben Zyklus, in der 45. Malaktion im Juli und August.
2003 Im Oktober findet zu Nitschs 65. Geburtstag eine umfangreiche Retrospektive und die 115. Aktion im Essl
Museum, Klosterneuburg, statt
2004 Nitsch wird Gastprofessor am Institut für Theaterwissenschaften an der Universität Wien.
2005 Hermann Nitsch wird der Österreichische Staatspreis sowie die Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien in
Gold verliehen. Auf Einladung Direktor Klaus Bachlers bespielt Nitsch das Burgtheater mit einer großen Aktion.
2006 Eine umfassende Ausstellung wird im Martin-Gropius-Bau, Berlin gezeigt.
2007 Das Nitsch Museum in Mistelbach in Niederösterreich wird unter Gründungsdirektor Wolfgang Denk eröffnet. Nitsch übernimmt Gestaltung, Bühnenbild und Kostüme für Szenen aus Goethes Faust im Opernhaus Zürich.

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2008 Das Museo Hermann Nitsch in Neapel wird eröffnet. Nitsch bekommt die Ehrendoktorwürde durch die Unversität Cluj, Rumänien verliehen.
2009 Sein dreibändiges Buch Das Sein erscheint. Die Nitsch Foundation in Wien wird begründet, um die bedeutende Position des Künstlers und seines Gesamtkunstwerks zu unterstützen und zu vermitteln. Die 56. Malaktion im Nitsch Museum, Mistelbach ist die bisher größte Malaktion des Künstlers: für den Zyklus Kathedrale der Farben werden 108 Leinwände auf 700 Quadratmetern beschüttet und beschmiert.
2012 Die 135. Aktion findet im Rahmen der XI Bienal de la Habana auf Kuba statt. Nitsch bekommt die Ehrendoktorwürde der Universität Havanna, Kuba verliehen. Bei der 64. Malaktion im Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto (MART) etabliert Nitsch die quadratischen Schmier- und Schüttbilder.
2013 Nitsch bespielt das Centraltheater in Leipzig mit einer dreitägigen Aktion.
2015 Die rund 1000seitige Monografie Hermann Nitsch - Das Gesamtkunstwerk des o.m. theaters erscheint im Verlag Walther König, herausgegeben von Michael Karrer.
2018 Aus Anlass des 80. Geburtstags des Künstlers im August wird im Nitsch Museum eine biografische Werkschau gezeigt und eine Aktionssinfonie realisiert.

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

2019 Eine umfassende Ausstellung über die Malerei des o.m. theaters wird in der Albertina, Wien gezeigt.
2020 Die 158. Aktion wird im Museo Hermann Nitsch aufgeführt. (Die letzte Aktion des o.m. theaters die persönlich Nitsch anleitete.)
2021 Die Bayreuther Festspiele laden Nitsch im Sommer 2021 ein, Richard Wagners Walküre mit einer Malaktion zu begleiten, für Nitsch erfüllt sich damit ein Herzenswunsch. Nitsch vollendet die Partitur einer erweiterten Fassung des 6-Tage-Spiels (2. Fassung).
2022 Die Pace Gallery New York, Genf, Hongkong nimmt Nitsch unter Vertrag und übernimmt seine weltweite Repräsentation. Hermann Nitsch stirbt am 18. April in Mistelbach, Niederösterreich. Rita Nitsch erfüllt ihm seinen Wunsch posthum, und realisiert gemeinsam mit Andrea Cusumano als musikalischen Leiter und den Aktionsregisseuren Leonhard Kopp, Frank Gassner und Josef Smutný, die 160. Aktion - die 2. Fassung des 6-Tage-Spiels.
2023 Die Fortsetzung des 6-Tage-Spiels, der Tag des Dionysos (3. Tag), wird am Pfingstsonntag, 28. Mai in Schloss Prinzendorf aufgeführt.

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

Die Malerei nimmt im Werk Hermann Nitschs eine wichtige Position ein. Der Künstler hat immer betont, dass sie im Sinne des synästhetischen Ansatzes eine gleichwertige Rolle in seinem Gesamtwerk besetzt. Denn letztlich will er ein Kunstwerk schaffen, das nach seinen Worten „mit allen Sinnen erlebt" werden kann. In den Jahren zwischen 1960 und 1963 gelingt ihm dennoch, unter dem Einfluss und als Kritik am abstrakten Expressionismus der Pariser- und New Yorker Schulen (Yves Klein, Jackson Pollock), ein bemerkenswertes Frühwerk. Nitsch will die Malerei über das Bildformat hinaus in den Raum erweitern, sie soll Teil des o.m. theaters, aber auch seiner Bühneninterpretationen von klassischen Werken aus der Opernliteratur, wie beispielsweise der Inszenierung von Richard Wagners Walküre in Bayreuth 2021, werden. Ab 1963 konzentriert er sich auf die Erarbeitung und Durchsetzung seiner Aktionen und beginnt vor allem mit der Malaktion in der „Wiener Sezession" im Jahr 1987 mit dem zweiten Teil des malerischen Gesamtwerks. Auch unter dem Einfluss seiner zunehmenden Beschäftigung als Komponist und der schon in den 1960er-Jahren definierten farbenlehre des o.m. Iheaters findet er nun zu einer extrem erweiterten und vielschichtigen Chromatik. Der in vielen Serien verwendete pastose, ja breiige, Farbauftrag sowie die Kombination der Leinwände mit den bei den Malaktionen benützten Malhemden betonen die Sinnlichkeit des Farbauftrages. Besonders in den letzten Jahren seines Schaffens konzentriert er sich auf die Umsetzung seiner Musikkompositionen in eine farblich virtuose und schwelgerische Malerei, seine Welt wird zu Farbe und Licht und die Tragik der kathartischen Zerreißungsaktion wird im malerischen Spätwerk durch eine versöhnliche schöpferische Kraft in der Malerei ergänzt.

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

Nachdem Nitsch 1963 die Aktionsmalerei beendet - um sie erst um 1983 wieder aufzugreifen - beginnt er über die nun entstehenden bildhaften Collagen (Reliktcollagen) hinaus, das Formenvokabular des o.m.theaters in den Raum zu erweitern. In einem nicht realisierten Projekt für die Räume der Wiener Sezession entstehen um 1965 Skizzen für Tischaktionen. Er arbeitet auch an Entwürfen für eine Oper, bei der er für einen dem Wiener Musikverein nachempfundenen Konzertsaal Musiker über den Raum verteilt, während auf der Bühne Motive des o.m.theaters gezeigt werden. Auf ersten Blättern skizziert Nitsch auch seine Ideen für eine Architektur des o.m.theaters.

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

Da Nitsch die Ereignisse des o.m. theaters nicht auf eine Bühne oder einen Raum beschränken möchte, sondern vielmehr einen freien Bewegungsraum (z. B. im Rahmen der Dramaturgie von Prozessionen) visioniert, entwirft er in seiner Architektur einen Idealraum, ein exterritorial gedachtes Spielareal mit seinem Wohn- und Arbeitsort Schloss Prinzendorf im Zentrum. Teil dieses Areals ist das komplexe System einer unterirdischen Stadt, bei der Gänge und Höhlen in den Erdboden vorangetrieben werden. Diese in die Tiefe gehende Architektur formuliert metaphorisch die psychoanalytische Dynamik des Spiels. Wuchernde biomorphe Formen erinnern an Gewebestrukturen, Organsysteme oder fluide Kreisläufe und dominieren seit Mitte der 1960er-Jahre sein Werk im Bereich der Zeichnung und Druckgrafik.

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

Der Universalkünstler Hermann Nitsch arbeitet seit 1957 an der Theorie und Verwirklichung seines o.m. theaters. Dabei handelt es sich um ein dramatisches Epos, für dessen vollständige Ausführung der Künstler eine unterirdische Idealarchitektur, einen Spielbezirk - mit seinem Wohn- und Arbeitsort Schloss Prinzendorf im Zentrum - entworfen hat. Ab 1963 hat er weltweit in zahlreichen Aktionen zentrale Motive des als 6-tägiges „Existenzfest" angelegten Spiels vorgestellt. Die offene Struktur dieses Mysterienspiels konnte er auf vielfältige, ihm zur Verfügung stehende Räume, vom Kelleratelier in den 1960er-Jahren, über leerstehende Kirchenräume und ein römisches Amphitheater in den 1970er-Jahren bis zum Bühnenraum des Burgtheaters (2005) oder bei der kurz vor seinem Tod realisierten großen Malaktion auf der Buhne des Festspielhauses in Bayreuth im Zuge seiner Inszenierung von Richard Wagners Walküre anwenden. 1998 wurde erstmals eine Version der sechs Tage und Nächte dauernden Gesamtfassung des o.m. theaters realisiert und Nitsch reiht sich damit in die Geschichte der visionären, die Kunst erweiternden Werkentwürfe, von Monet bis Turell, von Skrjabin bis Artaud, vom Living Theater bis Schlingensief, ein.

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

Dem synästhetischen Aufbau seiner Kunst entsprechend organisiert sich um die dramatische Struktur des o.m. theaters ein umfangreiches bildnerisches, musikalisches und literarisches Werk, in dem der Künstler die Motive und Symbolik seiner Material- und Bildsprache, die Verräumlichung und die detaillierten „Aktionspartituren" entwickeln konnte.
Begleitend entstand eine ausführliche Theorie, mit der Nitsch eine historische Kontextualisierung, kulturgeschichtliche Genese und wirkungsgeschichtliche Untermauerung vorschlägt.

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

Das zentrale Motiv und Thema in Nitschs Kunst ist die Darstellung und Überwindung des Tragischen, ja des Todes, durch kathartisches Erkennen. Dieser Wunsch verweist auch auf seine Geburtsstadt Wien mit all ihren im 20. Jahrhundert durchlebten kulturellen und politischen Verwerfungen zwischen imperialer Pracht, apokalyptischem Versinken und der schwierigen kulturpolitischen Rekonstitution und Identitätsfindung ab 1945. Im Jahr des „Anschlusses" und damit des Endes Österreichs als eigenständiges Staatsgebilde geboren, hat Nitsch als Kind die Bombardements und den Kampf um Wien miterlebt. Zweifellos haben diese Erfahrungen sein Werk geprägt und er hat als Teil der ersten österreichischen Nachkriegsavantgarden und Mitglied des Wiener Aktionismus kraftvoll und bis heute kontrover-siell nicht nur zur Neubestimmung der Position der zeitgenössischen Kunst, sondern in vielen grundsätzlichen Auseinandersetzungen und Diskussionen auch zum Aufbau eines offenen und liberalen gesellschafts- und kulturpolitischen Klimas in der Zweiten Republik beigetragen.

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023

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Hermann Nitsch, 1938 - 2022

 Hermann Nitsch - Farbenwelt, September 2023



Wem der viele Text zu lange war und lieber Bewegtbilder mit Musik mag, kann sich gerne dieses Video antun: