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Im September und Oktober 2023 fand im Museum St. Peter an der Sperr in Wiener Neustadt die Ausstellung 'Hermann Nitsch - Farbenwelt' statt. An die 100 Werke des im April 2022 verstorbenen Universalkünstlers Hermann Nitsch wurden gezeigt.
Die im Museum und der dazugehörigen Kirche präsentierten Arbeiten sind
vor allem großformatige Werke aus den letzten Jahren von Hermann Nitsch
aus der Sammlung Werner Trenker, ergänzt um Leihgaben der Nitsch
Foundation.
Die Arbeiten bestechen durch völlig neue, leuchtende Farbkompositionen.
Als Kurator der Schau konnte Hubert Klocker, ein ausgewiesener
Aktionismus-Spezialist gewonnen werden.
„es macht mir grosse freude mich bei meinen arbeiten, die ich als
achtzigjähriger noch herzustellen vermag, auf die blumenfarbige
leuchtkraft der geschmierten farbsubstanz zu konzentrieren. mehr denn
je ist mir die auferstehung ein prinzip.“ (Hermann Nitsch, 2019)
1938 Hermann Nitsch wird am 29.
August in Wien geboren und wächst mit seiner Mutter in Großjedlersdorf
im 21. Wiener Gemeindebezirk auf.
1944 Nitschs Vater fällt im
Zweiten Weltkrieg. Die Großeltern mütterlicherseits wohnen in der Nähe
und sein Großvater wird für Nitsch zum Vaterersatz; dieser vermittelt
ihm auch das Interesse am Zeichnen.
1953-1958 Nach dem
Pflichtschulabschluss besucht er die Höhere Graphischen Lehr- und
Versuchsanstalt in Wien und setzt sich mit Literatur und Lyrik, Musik
und Philosophie auseinander. Er beginnt zu schreiben und plant ein
Ur-Drama, das alle großen Themenbereiche des Seins umfassen soll.
1957 Er erhält eine Anstellung
als Grafiker am Technischen Museum Wien und entwickelt die Idee des
o.m. theaters (Orgien Mysterien Theaters).
1959 Die Ausstellung Junge
Maler der Gegenwart im Künstlerhaus Wien mit Werken von Antoni Tàpies,
Willem de Kooning, Sam Francis, Jackson Pollock, Georges Mathieu,
Arnulf Rainer, Josef Mikl und Wolfgang Hollegha begeistert Nitsch
restlos. Sie ist der Auslöser, sich dem eigenen malerischen Schaffen zu
widmen, um sich der Vision vom Gesamtkunstwerk zuerst über die
informelle Malerei und den zweidimensionalen Raum anzunähern.
1960 Eine erste Ausstellung
gemeinsam mit Fritz Kindl im Loyalty Club, Wien wird von Peter Fürst,
Sohn seines Hausherrn, initiiert. Im Technischen Museum nutzt Nitsch
einen Raum als Atelier. Es entstehen zunächst kleinformatige pastose
Arbeiten, später, in seiner ersten als solche bezeichneten Malaktion am
18. November die frühesten Kreuzwegstationen.
1961 Nach weiteren Malaktionen
im Technischen Museum findet am 12. Juli die 4. Malaktion im Atelier
Nitsch in der Mitterhofergasse, Wien statt.
1962 Parallel zum Beginn der
Bewegung des Wiener Aktionismus bezieht Nitsch ein Atelier in der
Brünner Straße in Wien Floridsdorf. Die Größe des Raums mit einer Länge
von neun Metern ermöglicht es ihm, großformatige Bilder zu malen. Im
Rahmen der Veranstaltung Blutorgel der Wiener Aktionisten in Otto
Muehls Kelleratelier in der Perinetgasse, Wien findet am 4. Juni
Nitschs 7. Malaktion statt. Es entsteht das Blutorgelbild, das erste
Schüttbild mit Blut als Malmittel. Am 19. Dezember realisiert Nitsch in
Muehls Wohnatelier in der Oberen Augartenstraße, Wien seine 1. Aktion,
bei der Nitsch sich ans Kreuz binden und mit Farbe beschütten lässt.
1963 Die 2. Aktion, die erste
öffentliche, findet am 8. März anlässlich der Eröffnung der Galerie
Dvorak in der Lagergasse, Wien statt. Die 3. Aktion (Fest des
psychophysischen Naturalismus) am 28. Juni in der Perinetgasse, Wien
wird von der Polizei beendet. Die Aktion sorgt für viel Aufsehen und
Nitsch und Muehl kommen für mehrere Tage in Haft.
1965 Nitsch heiratet Eva Kranich.
1966 Die Wiener Aktionisten
erfahren beim The Destruction in Art Symposium (DIAS) in London das von
Gustav Metzger veranstaltet wird, ihren internationalen Durchbruch.
Nitsch trennt sich von Eva Kranich.
1967 Nitsch lernt Beate König
kennen. Aufgrund mehrerer Gerichtsprozesse und Gefängnisstrafen
verlässt Nitsch Österreich, um mit Beate bis 1978 hauptsächlich in
Deutschland zu leben.
1968 In den USA finden vier
Aktionen in Cincinnati und New York statt. Dort lernt er Vertreter der
Fluxus-Bewegung kennen. Er heiratet Beate König. Im Herbst zieht der
Ziehsohn Leo Kopp, geboren 1957, als Pflegekind zu Beate und Hermann
Nitsch.
1970 Weitere Aktionen in New
York, München und Köln folgen zusammen mit einer verstärkt auch
internationalen Ausstellungstätigkeit und regelmäßigen Publikationen
von Büchern, Tonträgern und Filmen.
1971 Nitsch kauft Schloss Prinzendorf in Niederösterreich.
1972 Er nimmt an der von Harald
Szeemann kuratierten documenta 5 in Kassel teil. Nitsch bespielt das
Mercer Arts Center in New York mit deiner 12-Stunden Aktion, erstmals
wird eine Aktion zum Fest erweitert. Charlotte Meorman partizipiert als
Akteurin.
1973 Beim ersten Pfingstfest, das seither generell jedes Jahr auf Schloss Prinzendorf und in dessen Umgebung
stattfindet, wird das o.m. theater.
1974 In der Folge der 45.
Aktion am 10. April im Studio Morra, Neapel kommt es zur Intensivierung
der Zusammenarbeit mit dem Kunstsammler Giuseppe Morra in Form weiterer
Aktionen, Ausstellungen und Publikationen. Erstmals arbeitet auch Leo
Kopp an den Projekten seines Ziehvaters mit und wird mit den Jahren zum
besten Kenner der Umsetzung von Nitschs Aktionen.
1975 50. Aktion, das erste
24-Stunden-Spiel findet von Sonnenaufgang 26. Juli bis Sonnenaufgang
27. Juli in Schloss Prinzendorf statt.
1977 Beate Nitsch verunglückt
bei einem Autounfall. Mit der 55. Aktion, Requiem für meine Frau Beate
in Bologna, gewinnt die Musik in Nitschs Lebenswerk an Bedeutung.
1978 Nitsch beginnt eine
mehrjährige Beziehung mit Christine König. Es kommt zur ersten
Galeriezusammenarbeit mit Heike Curtze. Ihr gelingt es, viele der
frühen Werke in bedeutenden Museumssammlungen zu platzieren.
1982 Nitsch nimmt an der documenta 7 in Kassel unter der künstlerischen Leitung von Rudi Fuchs teil.
1983 Eine Einzelausstellung im
Van Abbemuseum, Eindhoven wird von Rudi Fuchs kuratiert. Nach einer
fast 20-jährigen Malpause im ursprünglichen Sinn nutzt Nitsch die Leere
des Schüttbodens in Schloss Prinzendorf für eine große Malaktion, bei
der eine Reihe großformatiger, in Rot gehaltener Arbeiten entsteht.
1984 Die 80. Aktion, ein 3-Tage-Spiel mit 18. Malaktion, findet von 27. bis 30. Juli auf Schloss Prinzendorf statt.
Nitsch beginnt sein großes Grafikwerk Die Architektur des o.m. theaters. Seine Mutter stirbt.
1987 Bei der 20. Malaktion vom
18. bis 21. Februar in der Wiener Secession bespielt Nitsch den
gesamten Hauptraum. Es folgen in den kommenden Jahren weltweit
Ausstellungen, Aktionen und Konzerte in Italien, Spanien, USA,
Deutschland, Australien, Frankreich, Schweden, Luxemburg, Tschechien,
den Niederlanden, Japan, der Schweiz, England, China, Kuba, der
Slowakei, der Türkei und Mexiko.
1988 Nitsch heiratet Rita
Leitenbor. Die 26. Malaktion findet im Rahmen der Sydney Biennale im
Mai statt. Eine erste große Retrospektive wird in der Städtischen
Galerie im Lehnbachhaus in München gezeigt.
1989 Nitsch wird als Professor
für interdisziplinäre Kunst an die Städelschule in Frankfurt am Main
berufen, allerdings ohne Lehrstuhl.
1991 Im Rahmen der 30. Malaktion im August entsteht der erste Schwarze Zyklus an Schüttbildern.
1992 Nitsch vertritt als einziger Künstler Österreichs das Land bei der Weltausstellung in Sevilla.
1993 Er leitet alle zwei Jahre
eine Klasse für Malerei an der Internationalen Sommerakademie in
Salzburg. In der Prager Nationalgalerie findet die bislang größte
Nitsch-Ausstellung, vermittelt von Wolfgang Denk, statt.
1994 Auf Einladung von deren
Direktor Wolfgang Denk kommt es zur Ausstellung in der Kunsthalle
Krems. Im Rahmen der 35. Malaktion im Juli und August realisiert Nitsch
erstmals ein Ochsenbild, dessen Struktur an die Karkasse eines Ochsen
erinnert.
1995 Die Wiener Staatsoper
beauftragt Nitsch, die Ausstattung der Oper Hérodiade von Jules
Massenet zu übernehmen und bei der Inszenierung Regie zu führen. In der
36. Malaktion im Juni und Juli auf Schloss Prinzendorf entstehen die
pastos überarbeiteten Werke der Braunen Serie. Eine umfangreiche
Personale wird im Künstlerhaus Wien gezeigt. Im Rahmen der 37.
Malaktion am 8. und 9. Oktober im Kunsthaus Mürzzuschlag, Steiermark
realisiert Nitsch eine Serie an Bodenschüttbildern mit Öl und Blut. Er
wird vom österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Kultur
zum Ehrenprofessor ernannt.
1996 Die 96. Aktion findet im
Weingarten San Martino von Giuseppe Morra in Neapel statt, die drei
Tage dauernde 38. Malaktion im Schömerhaus von Karlheinz Essl in
Klosterneuburg bei Wien.
1997 Bei der großen schwarzen
40. Malaktion im Museum des 20. Jahrhunderts (20er Haus), Wien ist
Nitsch fast zwei Wochen lang in den Räumlichkeiten den Wirkungen von
Terpentin ausgesetzt. Infolge einer körperlichen Reaktion arbeitet er
fortan fast ausschließlich mit Acrylfarbe.
1998 Von 3. bis 9. August
findet auf Schloss Prinzendorf das 6-Tage-Spiel des o.m theaters (100.
Aktion) gemeinsam mit der 41. Malaktion statt.
2000 Im Rahmen der 43. Malaktion entstehen im Sommer die farbig pastosen Bilder des Auferstehungszyklus I.
2001 Nitsch übernimmt die Gesamtausstattung der Oper Satyagraha von Philip Glass im Festspielhaus St. Pölten.
2002 Er arbeitet am Auferstehungszyklus II, dem ersten ausschließlich gelben Zyklus, in der 45. Malaktion im Juli und August.
2003 Im Oktober findet zu Nitschs 65. Geburtstag eine umfangreiche Retrospektive und die 115. Aktion im Essl
Museum, Klosterneuburg, statt
2004 Nitsch wird Gastprofessor am Institut für Theaterwissenschaften an der Universität Wien.
2005 Hermann Nitsch wird der Österreichische Staatspreis sowie die Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien in
Gold verliehen. Auf Einladung Direktor Klaus Bachlers bespielt Nitsch das Burgtheater mit einer großen Aktion.
2006 Eine umfassende Ausstellung wird im Martin-Gropius-Bau, Berlin gezeigt.
2007 Das Nitsch Museum in
Mistelbach in Niederösterreich wird unter Gründungsdirektor Wolfgang
Denk eröffnet. Nitsch übernimmt Gestaltung, Bühnenbild und Kostüme für
Szenen aus Goethes Faust im Opernhaus Zürich.
2008 Das Museo Hermann Nitsch
in Neapel wird eröffnet. Nitsch bekommt die Ehrendoktorwürde durch die
Unversität Cluj, Rumänien verliehen.
2009 Sein dreibändiges Buch Das
Sein erscheint. Die Nitsch Foundation in Wien wird begründet, um die
bedeutende Position des Künstlers und seines Gesamtkunstwerks zu
unterstützen und zu vermitteln. Die 56. Malaktion im Nitsch Museum,
Mistelbach ist die bisher größte Malaktion des Künstlers: für den
Zyklus Kathedrale der Farben werden 108 Leinwände auf 700 Quadratmetern
beschüttet und beschmiert.
2012 Die 135. Aktion findet im
Rahmen der XI Bienal de la Habana auf Kuba statt. Nitsch bekommt die
Ehrendoktorwürde der Universität Havanna, Kuba verliehen. Bei der 64.
Malaktion im Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto
(MART) etabliert Nitsch die quadratischen Schmier- und Schüttbilder.
2013 Nitsch bespielt das Centraltheater in Leipzig mit einer dreitägigen Aktion.
2015 Die rund 1000seitige
Monografie Hermann Nitsch - Das Gesamtkunstwerk des o.m. theaters
erscheint im Verlag Walther König, herausgegeben von Michael Karrer.
2018 Aus Anlass des 80.
Geburtstags des Künstlers im August wird im Nitsch Museum eine
biografische Werkschau gezeigt und eine Aktionssinfonie realisiert.
2019 Eine umfassende Ausstellung über die Malerei des o.m. theaters wird in der Albertina, Wien gezeigt.
2020 Die 158. Aktion wird im Museo Hermann Nitsch aufgeführt. (Die letzte Aktion des o.m. theaters die persönlich Nitsch anleitete.)
2021 Die Bayreuther Festspiele
laden Nitsch im Sommer 2021 ein, Richard Wagners Walküre mit einer
Malaktion zu begleiten, für Nitsch erfüllt sich damit ein
Herzenswunsch. Nitsch vollendet die Partitur einer erweiterten Fassung
des 6-Tage-Spiels (2. Fassung).
2022 Die Pace Gallery New York,
Genf, Hongkong nimmt Nitsch unter Vertrag und übernimmt seine weltweite
Repräsentation. Hermann Nitsch stirbt am 18. April in Mistelbach,
Niederösterreich. Rita Nitsch erfüllt ihm seinen Wunsch posthum, und
realisiert gemeinsam mit Andrea Cusumano als musikalischen Leiter und
den Aktionsregisseuren Leonhard Kopp, Frank Gassner und Josef Smutný,
die 160. Aktion - die 2. Fassung des 6-Tage-Spiels.
2023 Die Fortsetzung des
6-Tage-Spiels, der Tag des Dionysos (3. Tag), wird am Pfingstsonntag,
28. Mai in Schloss Prinzendorf aufgeführt.
Die Malerei nimmt im Werk
Hermann Nitschs eine wichtige Position ein. Der Künstler hat immer
betont, dass sie im Sinne des synästhetischen Ansatzes eine
gleichwertige Rolle in seinem Gesamtwerk besetzt. Denn letztlich will
er ein Kunstwerk schaffen, das nach seinen Worten „mit allen Sinnen
erlebt" werden kann. In den Jahren zwischen 1960 und 1963 gelingt ihm
dennoch, unter dem Einfluss und als Kritik am abstrakten
Expressionismus der Pariser- und New Yorker Schulen (Yves Klein,
Jackson Pollock), ein bemerkenswertes Frühwerk. Nitsch will die Malerei
über das Bildformat hinaus in den Raum erweitern, sie soll Teil des
o.m. theaters, aber auch seiner Bühneninterpretationen von klassischen
Werken aus der Opernliteratur, wie beispielsweise der Inszenierung von
Richard Wagners Walküre in Bayreuth 2021, werden. Ab 1963 konzentriert
er sich auf die Erarbeitung und Durchsetzung seiner Aktionen und
beginnt vor allem mit der Malaktion in der „Wiener Sezession" im Jahr
1987 mit dem zweiten Teil des malerischen Gesamtwerks. Auch unter dem
Einfluss seiner zunehmenden Beschäftigung als Komponist und der schon
in den 1960er-Jahren definierten farbenlehre des o.m. Iheaters findet
er nun zu einer extrem erweiterten und vielschichtigen Chromatik. Der
in vielen Serien verwendete pastose, ja breiige, Farbauftrag sowie die
Kombination der Leinwände mit den bei den Malaktionen benützten
Malhemden betonen die Sinnlichkeit des Farbauftrages. Besonders in den
letzten Jahren seines Schaffens konzentriert er sich auf die Umsetzung
seiner Musikkompositionen in eine farblich virtuose und schwelgerische
Malerei, seine Welt wird zu Farbe und Licht und die Tragik der
kathartischen Zerreißungsaktion wird im malerischen Spätwerk durch eine
versöhnliche schöpferische Kraft in der Malerei ergänzt.
Nachdem Nitsch 1963 die Aktionsmalerei beendet - um sie erst um 1983
wieder aufzugreifen - beginnt er über die nun entstehenden bildhaften
Collagen (Reliktcollagen) hinaus, das Formenvokabular des o.m.theaters
in den Raum zu erweitern. In einem nicht realisierten Projekt für die
Räume der Wiener Sezession entstehen um 1965 Skizzen für Tischaktionen.
Er arbeitet auch an Entwürfen für eine Oper, bei der er für einen dem
Wiener Musikverein nachempfundenen Konzertsaal Musiker über den Raum
verteilt, während auf der Bühne Motive des o.m.theaters gezeigt werden.
Auf ersten Blättern skizziert Nitsch auch seine Ideen für eine Architektur des o.m.theaters.
Da Nitsch die Ereignisse des o.m. theaters nicht auf eine Bühne oder
einen Raum beschränken möchte, sondern vielmehr einen freien
Bewegungsraum (z. B. im Rahmen der Dramaturgie von Prozessionen)
visioniert, entwirft er in seiner Architektur einen Idealraum, ein
exterritorial gedachtes Spielareal mit seinem Wohn- und Arbeitsort
Schloss Prinzendorf im Zentrum. Teil dieses Areals ist das komplexe
System einer unterirdischen Stadt, bei der Gänge und Höhlen in den
Erdboden vorangetrieben werden. Diese in die Tiefe gehende Architektur
formuliert metaphorisch die psychoanalytische Dynamik des Spiels.
Wuchernde biomorphe Formen erinnern an Gewebestrukturen, Organsysteme
oder fluide Kreisläufe und dominieren seit Mitte der 1960er-Jahre sein
Werk im Bereich der Zeichnung und Druckgrafik.
Der Universalkünstler Hermann Nitsch arbeitet seit 1957 an der Theorie
und Verwirklichung seines o.m. theaters. Dabei handelt es sich um ein
dramatisches Epos, für dessen vollständige Ausführung der Künstler eine
unterirdische Idealarchitektur, einen Spielbezirk - mit seinem Wohn-
und Arbeitsort Schloss Prinzendorf
im Zentrum - entworfen hat. Ab 1963 hat er weltweit in zahlreichen
Aktionen zentrale Motive des als 6-tägiges „Existenzfest" angelegten
Spiels vorgestellt. Die offene Struktur dieses Mysterienspiels konnte
er auf vielfältige, ihm zur Verfügung stehende Räume, vom Kelleratelier
in den 1960er-Jahren, über leerstehende Kirchenräume und ein römisches
Amphitheater in den 1970er-Jahren bis zum Bühnenraum des Burgtheaters
(2005) oder bei der kurz vor seinem Tod realisierten großen Malaktion
auf der Buhne des Festspielhauses in Bayreuth im Zuge seiner
Inszenierung von Richard Wagners Walküre anwenden. 1998 wurde erstmals
eine Version der sechs Tage und Nächte dauernden Gesamtfassung des o.m.
theaters realisiert und Nitsch reiht sich damit in die Geschichte der
visionären, die Kunst erweiternden Werkentwürfe, von Monet bis Turell,
von Skrjabin bis Artaud, vom Living Theater bis Schlingensief, ein.
Dem synästhetischen Aufbau seiner Kunst entsprechend organisiert sich
um die dramatische Struktur des o.m. theaters ein umfangreiches
bildnerisches, musikalisches und literarisches Werk, in dem der
Künstler die Motive und Symbolik seiner Material- und Bildsprache, die
Verräumlichung und die detaillierten „Aktionspartituren" entwickeln
konnte.
Begleitend entstand eine ausführliche Theorie, mit der Nitsch eine
historische Kontextualisierung, kulturgeschichtliche Genese und
wirkungsgeschichtliche Untermauerung vorschlägt.
Das zentrale Motiv und Thema in Nitschs Kunst ist die Darstellung und
Überwindung des Tragischen, ja des Todes, durch kathartisches Erkennen.
Dieser Wunsch verweist auch auf seine Geburtsstadt Wien mit all ihren
im 20. Jahrhundert durchlebten kulturellen und politischen Verwerfungen
zwischen imperialer Pracht, apokalyptischem Versinken und der
schwierigen kulturpolitischen Rekonstitution und Identitätsfindung ab
1945. Im Jahr des „Anschlusses" und damit des Endes Österreichs als
eigenständiges Staatsgebilde geboren, hat Nitsch als Kind die
Bombardements und den Kampf um Wien miterlebt. Zweifellos haben diese
Erfahrungen sein Werk geprägt und er hat als Teil der ersten
österreichischen Nachkriegsavantgarden und Mitglied des Wiener
Aktionismus kraftvoll und bis heute kontrover-siell nicht nur zur
Neubestimmung der Position der zeitgenössischen Kunst, sondern in
vielen grundsätzlichen Auseinandersetzungen und Diskussionen auch zum
Aufbau eines offenen und liberalen gesellschafts- und kulturpolitischen
Klimas in der Zweiten Republik beigetragen.
Hermann Nitsch, 1938 - 2022
Wem der viele Text zu lange war und lieber Bewegtbilder mit Musik mag,
kann sich gerne dieses Video antun: